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Freitag
Aug312007

Andreas Schleicher: Vortrag zur individuellen Förderung

Auf dem bildungspolitischen Kongress in Essen am 3. Februar 2007 hielt Andreas Schleicher, der PISA-Chef der OECD, einen beachtenswerten Vortrag zum Konzept der individuellen Förderung.

Herr Ministerpräsident Rüttgers, Frau Ministerin Sommer, meine Damen und Herren,

Das Stichwort individuelle Förderung ist heute in aller Munde, nicht nur auf diesem Kongress, sondern überall auf der Welt. Man könnte ja sagen, dass “individuelles Fördern” fast schon eine Tautologie ist; wenn man von Fördern spricht, sollte es doch eigentlich selbstverständlich sein, dass wir den verschiedenen Interessen, Fähigkeiten und sozialen Kontexten der Schüler Rechnung tragen.

Und doch ist die tagtägliche Arbeit in den Schulen noch so unendlich weit von dem Ziel individueller Förderung entfernt. Wir versuchen die Schüler des 21. Jahrhunderts zu unterrichten durch Lehrer, die im 20. Jahrhundert ausgebildet, doch seit ihrer Erstausbildung oft im Klassenzimmer allein gelassen wurden, und die in einem Schulsystem und einer Arbeitsumgebung arbeiten, die im wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert stammt:

  • Ein Schulsystem, das nicht für optimales Lernen geschaffen wurde, sondern dafür, verlässlichen Output zu erzielen.
  • Ein Schulsystem, für das der Zugang zu weiterem Lernen nicht für alle Schüler und zu jeder Zeit offen stand, sondern dessen Ziel darin bestand, relativ kostengünstig für eine ausreichende Zahl junger Menschen entscheidendes Basiswissen bereit zu stellen.
  • Ein Schulsystem, das nicht in erster Linie auf vertieftes Verständnis und die Motivation und Begeisterung für lebensbegleitendes Lernen abzielte, sondern darauf, junge Menschen auf die Werte und Arbeitsformen der Industriegesellschaft vorzubereiten.

Aber genau das funktioniert heute nicht mehr, denn die globale Wissenschaft stellt andere Anforderungen an Schüler, Lehrer und Schulen:

  • In der Industriegesellschaft waren Märkte stabil, der Wettbewerb national ausgerichtet, und Organisationsformen hierarchisch. In der Wissensgesellschaft sind Märkte dynamisch, der Wettbewerb global und Organisationsformen vernetzt.
  • In der Industriegesellschaft basierten Wachstumsimpulse auf Mechanisierung und Wettbewerbsvorteile auf “economies of scale”. Heute kommen Wachstumsimpulse aus Digitalisierung und Miniaturisierung und Wettbewerbsvorteile beruhen auf Innovation und Zeitnähe.
  • In der Industriegesellschaft war das Firmenmodell der Einzelbetrieb, heute sind es flexible Allianzen der Mitbewerber; in der Industriegesellschaft war Vollbeschäftigung das politische Ziel, heute ist es „employability“: Menschen dazu zu befähigen, ihren eigenen Horizont in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt zu erweitern.
  • In der Industriegesellschaft hatten Berufsprofile eine klare Identität im berufsspezifischen Kontext und formale Qualifikationen waren der Schlüssel zum Erfolg. Heute sind Konvergenz, Transformation und lebensbegleitendes Lernen die entscheidenden Voraussetzungen.

Warum ist das Konzept der individuellen Förderung hier zum zentralen Schlüssel geworden? Im Wesentlichen deshalb, weil es auf die Reproduktion von Routinewissen und Algorithmen, die man Schülern leicht im Gleichschritt vermitteln kann, in der modernen Wissensgesellschaft immer weniger ankommt. Klar ist, dass Dinge, die man leicht in handliche Bausteine zerlegen und algorithmisieren kann, sich auch leicht testen und unterrichten lassen. Nur entwickeln wir damit zumeist Kompetenzen, die sich heute digitalisieren, automatisieren und outsourcen lassen und jungen Menschen damit immer weniger helfen die globale Wissensgesellschaft mit zu gestalten. Außerdem nutzen wir das Potenzial junger Menschen nicht ausreichend, wenn wir alle mit den gleichen Methoden fördern und außer Acht lassen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben, die es individuell zu finden und fördern gilt.

Die zentrale Rolle individueller Förderung ist erkannt. Wie aber können wir sie im Unterrichtsalltag realisieren? Es gibt ja bereits viele Pädagogen und Schulen, die individuelle Förderung in ihrer täglichen Praxis in herausragender Weise verwirklichen, einige von diesen haben Ministerpräsident Rüttgers und Ministerin Sommer heute vorgestellt. Überhaupt, seit Jahrhunderten ist Deutschland Exportweltmeister in Sachen Pädagogik und didaktischer Theorien. Aber wir müssen uns irgendwann fragen, warum diese Konzepte in Ländern wie Finnland, Japan oder Kanada systemisch zum Tragen kommen, in Deutschland aber weitgehend auf Einzelinitiativen beschränkt bleiben. Wenn wir auf die Gesamtleistung in Deutschland schauen, sehen wir eben immer nur PISA, es gelingt in Deutschland noch nicht, gute Praxis individueller Förderung systemisch zu verankern. Weniger als die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland glauben, dass ihr Lehrer sich wirklich für den Lernfortschritt jedes Schülers interessiert, im OECD Mittel sind das 60% und in Schweden 70%. Nur 60% der deutschen Schüler glauben, dass der Lehrer den Schülern hilft, wenn sie Hilfe brauchen, in Kanada oder Finnland sind das um die 80%.

Erwarten Sie von mir für die Lösung dieser Probleme keine Patentrezepte, aber ein Blick auf die Erfahrungen erfolgreicher Bildungssysteme zeigen einige zentrale Elemente erfolgreicher individueller Förderung auf.
Dazu zählen:

  1. Die fortwährende Diagnose und Bewertung des individuellen Lernbedarfs eines Schülers, aber, und das ist wichtig, in einer Form, die innerhalb universeller Bildungsziele objektivierbar ist.
  2. Die Förderung der Fähigkeit und Motivation jedes einzelnen Schülers durch Lehr- und Lernformen, die nicht defizitär angelegt sind und den Schüler damit ständig vor Misserfolge stellen, sondern die wirklich auf den einzelnen Schüler zugeschnitten sind. Individuelle Förderung ist nicht lediglich eine Unterrichtsmethodik, sondern die Vorraussetzung, um Schülern die Fähigkeit und Motivation mit auf den Weg zu geben, lebensbegleitend weiter zu lernen und ihren Horizont beständig auszuweiten und damit die Basis für die Wissensgesellschaft zu schaffen.
  3. Die individuelle Gestaltung von Lehrplänen in einer Weise, die jeden Schülern einbezieht und die die Verschiedenheit in den Fähigkeiten, Interessen und Kontexten der Schüler nicht als Problem sondern als Potenzial guten Unterrichts sieht.
  4. erfordert individuelle Förderung radikales Umdenken in der Organisation von Schule, in einer Art und Weise, die den individuellen Lernfortschritt in den Mittelpunkt stellt und in der Schulen Verantwortung für den Lernerfolg übernehmen anstatt Schwierigkeiten auf Schulformen mit geringeren Leistungsanforderungen abzuwälzen. - Und
  5. unterstützt das Umfeld der Schule in den erfolgreichen Staaten - ob das jetzt Eltern, Kindergärten, die Jugendhilfe oder sonstige kommunale Einrichtungen sind - die Schule in ihren Anstrengungen, anstatt konkurrierende Angebote aufzubauen.

Lassen Sie mich auf diese fünf Punkte näher eingehen.

1. Individuelle Fähigkeiten erkennen und im Rahmen objektivierbarer Standards fördern

Erstens: Das am weitesten verbreitete Missverständnis des Konzeptes individueller Förderung ist, es so zu interpretieren, dass jeder Schüler einfach nach eigenem Gusto so vor sich hin lernen soll, dass man nationale Bildungsziele aufgibt, dass man Schüler frühzeitig “begabungsgerecht” auf verschiedene Bildungswege festlegt und so weiter. Klar ist, es reicht nicht zu glauben, nur weil wir gute Intentionen haben, werden auch die Resultate schon stimmen.

Ein individuelles Lernangebot erfordert zuallererst, dass wir die Stärken und Schwächen eines Schülers wirklich kennen. Fortlaufende Diagnostik, im angelsächsischen Sprachgebrauch “assessment for learning”, und der ständige Dialog zwischen Schüler und Lehrer sind die Grundvoraussetzung, um Schülern strukturierte Rückmeldungen zu geben, um individuelle Lernpfade festzulegen und um Unterrichtsplanung auf die individuellen Anforderungen der Schüler auszurichten.

Richtig verstanden bezieht sich Individualisierung also nicht auf die Bildungsziele für die Schüler, sondern darauf, wie wir unterschiedliche Lernwege und Lernmethoden einsetzen können, die jeden Schüler im Rahmen objektivierbarer universeller Standards bestmöglich fördern, und wie wir dazu geeignete Praxis institutionalisieren, um sie für alle Schüler in verlässlicher Weise zu realisieren.

Die erfolgreichen Bildungssysteme in den OECD Staaten haben dazu ausnahmslos klare und universell verbindliche Bildungsziele und Bildungsstandards. In den erfolgreichen Bildungssystemen nutzt man diese Bildungsstandards, um Maßstäbe für den Erfolg von Bildung schaffen, Transparenz durch neutrale und regelmäßige Berichterstattung zu fördern sowie um positive Signale für Schüler und Eltern zu setzen und Wege aufzuzeigen, wie Schüler ihre eigenen Stärken und Schwächen erkennen können und besser verstehen, auf welche Fähigkeiten es ankommt. Es geht auch darum, Lehrern ein Referenzsystem für professionelles Handeln zu bieten, d.h. Instrumente schaffen, um mit Heterogenität von Lernprozessen und Lernergebnissen konstruktiv umzugehen und Lernpfade individuell aber objektivierbar zu begleiten.

Viele OECD-Staaten sind noch einen Schritt weiter gegangen, sie definieren Ziele nicht allein auf einer hohen Abstraktionsebene durch die Festlegung allgemeiner Wertvorstellungen, sondern sie benennen Kompetenzen innerhalb der verschiedenen Lernbereiche, welche die Schulen ihren Schülern vermitteln müssen, damit zentrale Bildungsziele erreicht werden. Diese Anforderungen werden dann systematisch in Kompetenzmodellen geordnet, die Aspekte, Abstufungen und Entwicklungsverläufe von Kompetenzen darstellen und die verschiedenen Sichtweisen aus Pädagogik, Psychologie und Fachdidaktik integrieren. Gute Bildungsstandards können dazu beitragen, dass solche Festlegungen nicht willkürlich, sondern transparent und nach wissenschaftlichen und professionellen Maßstäben überprüfbar sind.

Schließlich definieren einige OECD-Staaten Bildungsstandards nicht lediglich als Maßstäbe für Bildungserfolg, sondern legen außerdem performance benchmarks fest, die Schüler an bestimmten Abschnitten ihres Bildungsweges erreicht haben müssen. Wie man das am Besten macht, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. England, z.B. legt die Leistung am Ende jedes „key stage“ fest. Finnland definiert Benchmarks, die Spitzenleistungen definieren, sowie Mindeststandards, die jeder Schüler erreicht haben sollte. Frankreich verwendet Standards weitgehend als Regelstandards, d.h. die Leistung der Schüler wird an der durchschnittlichen Leistung aller Schüler gemessen. Dabei glaube ich allerdings, dass dies die schlechteste aller Möglichkeiten ist, da sie einen defizitären Ansatz verfolgt, einen Ansatz, der Schüler primär daran misst, was sie im Vergleich zu der im vorab festgelegten Norm des Durchschnittsschülers nicht können. Die für die Stützung leistungsschwächerer Schüler entscheidende Frage, was diese wissen und können müssen, um erfolgreich zu sein, lässt sich mit solchen Regelstandards nicht beantworten.

Ebenso wenig halte ich die Reduktion von Bildungsstandards auf Mindeststandards für wünschenswert. Solche Mindeststandards wirken sich oft regressiv aus – sie bieten weder Anreize für gute Schüler und Schulen, besser zu werden, noch sprechen sie leistungsschwächere Schüler und Schulen an. Für ein entscheidendes Merkmal guter Bildungsstandards halte ich dagegen, dass sie Maßstäbe für Bildungserfolg bieten, die jeden Schüler dort abholen, wo er ist, und zur individuellen Förderung genutzt werden - mit aufeinander aufbauenden Kompetenzstufen die auf kumulatives, systematisch vernetztes Lernen abzielen sowie Lernentwicklungen verstehbar machen und weitere Abstufungen und Profilbildungen ermöglichen.

Wichtig ist, es geht bei richtig verstandenen Bildungsstandards nicht um die Normierung von Schülerleistungen, sondern darum, Maßstäbe für den Erfolg von Bildung zu schaffen. Richtig verstandene Bildungsstandards bedeuten auch nicht Gleichmacherei sondern sind geradezu Voraussetzung für den individuellen Umgang mit Vielfalt. Als Deutsche denken wir bei der Bewertung von Lernfortschritten ja sofort an Klassenarbeiten und Zensuren, die wir meist zur Kontrolle einsetzen, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren. Was die erfolgreichen Bildungssysteme aber auszeichnet, das sind motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen, mit denen Lernpfade und Lernstrategien individuell entwickelt und begleitet werden können. In Schweden z.B. bekommt der Schüler am Ende des Schuljahres nicht einfach eine Zeugnisnote, sondern der Lehrer setzt sich mit dem Schüler und dessen Eltern zusammen, um anhand objektiver Leistungsergebnisse zu überlegen, wie weitere Verbesserungen individuell erzielt werden können. Und dabei gilt eine Grundregel: Es beklagt sich bei diesen Gesprächen niemand über die Arbeit des anderen, sondern Schüler, Eltern und Lehrer sind gefordert, ihren eigenen Beitrag zur Verbesserung der Bildungsleistungen darzulegen. Die daraus resultierende verbindliche Vereinbarung ist dann das Zeugnis.

Die große Herausforderung hierbei ist natürlich immer, wie man Flexibilität in den Lernwegen mit Verantwortung auf der Seite der Bildungsanbieter verbinden kann. Flexibilität ohne Verantwortung führt ganz schnell zur Herabsetzung der Leistungsanforderungen. David Milliband, der ehemalige Bildungsminister Englands, hat hierfür das Wort “intelligent accountability” geprägt, ein Konzept, das Verbesserung fördert und gleichzeitig intolerant gegenüber Fehlleistungen ist. Damit ist die Bildungspolitik auch gefordert, für die fragmentierte Stimme aller Bildungsteilnehmer zu sprechen, und nicht zu akzeptieren, dass - um nur ein Beispiel zu nennen - Schüler mit Migrationshintergrund fast automatisch in Schulen und Schulformen mit geringeren Leistungsanforderungen landen. Ebenso ist sie gefordert, durch verlässliche Informationen das Vertrauen der Lehrer und Eltern zu stärken, Freiräume für Schulen zu schaffen um Bildungsziele kreativ umzusetzen, gleichzeitig aber auch dort gezielt zu unterstützen, wo der Erfolg noch ausbleibt.

2. Gewöhnliche Schüler haben außergewöhnliche Fähigkeiten

Kommen wir zu Punkt zwei, die Förderung der Fähigkeit und Motivation jedes einzelnen Schülers, den eigenen Horizont beständig auszubauen, durch Lehr- und Lernformen, die nicht defizitär angelegt sind und den Schüler damit ständig vor Misserfolge stellen, sondern die wirklich auf den einzelnen Schüler zugeschnitten sind.

Das erfordert zunächst Unterrichtsstrategien, die an die Schüler hohe Erwartungen stellen, die die Schüler in Lernprozesse einbinden, die Lehrer und anderes Personal kreativ und flexibel einsetzen, und die neue Technologien besser nutzen um verschiedene Lernwege und Lernstiele individuell zu unterstützen. PISA zeigt uns klar, dass Schüler und Schulen, die in einem Umfeld positiver Leistungserwartung arbeiten und deren Schulklima von Lernfreude und Anstrengungsbereitschaft gekennzeichnet ist, bessere Leistungen erreichen. Es geht hier dabei nicht darum irgendwelche „Lerntypen“ festzulegen, sondern darum, das von Howard Gardner so faszinierend beschriebene Konzept der Multiplen Intelligenzen durch ein breites Repertoire an Unterrichtsstrategien und Unterrichtsmethoden wirksam zu nutzen.

Hierzu gehört selbstverständlich, Sorge zu tragen, dass wir das Potenzial von Schülern aus sozial schwierigerem Umfeld zur Geltung bringen. Dazu reicht es nicht, überall gleichförmige Lernbedingungen zu schaffen, sondern es gilt umgekehrt sicherzustellen, dass Lernbedingungen so flexibilisiert werden, dass Lernerfolg nicht länger vom sozialen Kontext abhängt. Der größte Fehler, den wir hier machen können, ist zu glauben, dass gewöhnliche Schüler keine außergewöhnlichen Fähigkeiten haben können. Genau hier muss auch die Förderung in sozial benachteiligten Gebieten ansetzen, denn es ist ja nicht das Potenzial junger Menschen an den sozialen Hintergrund gekoppelt, sondern die Unterstützung und Rahmenbedingungen, die Schüler aus benachteiligten Schichten in Deutschland vorfinden um ihr Potenzial zu nutzen, ganz egal ob in der Schule oder zu Hause. Ebenso gilt es natürlich das typisch deutsche Phänomen zu überwinden, dass den Schülern außergewöhnlicher Erfolg in der Schule peinlich ist und dass dieser Erfolg nicht entsprechend anerkannt und gefördert wird, weil er eben an der anderen Seite des Leistungsspektrums aus dem Raster fällt.

3. Von einem Lehrplan für alle zu einem Lehrplan für jeden

Bei Punkt drei geht es um die individuelle Gestaltung von Lehrplänen in einer Weise, die jeden Schülern einbezieht und respektiert. Hier geht es darum, dass jeder Schüler den für ihn oder sie relevanten Zugang zu Lerninhalten und Lernmethoden bekommt um universelle Bildungsziele zu erreichen.

Schauen wir doch hier einmal auf einige Parallelen zwischen der modernen Arbeits- und Schulwelt. Die fortlaufende Automatisierung von Routinearbeit hat dazu geführt, dass Arbeit, die man vorwiegend in Form von geleisteten Arbeitsstunden misst, abnimmt, während Arbeit, die durch Inhalte, Zielvorgaben und deadlines definiert wird, an Bedeutung gewinnt. Das Kopenhagener Institut für Zukunftsforschung hat hierfür den Ausdruck „hard fun“ geprägt. Arbeit macht heute mehr Spaß, weil die Aufgaben interessanter werden. Aber sie stellt auch höhere Anforderungen, weil Zielvorgaben und deadlines zu Stress führen und weil es keine natürlichen limits mehr gibt, außer den deadlines natürlich, denn man kann ja alles immer noch besser machen. Außerdem ist der Einzelne zunehmend verantwortlich für das Ergebnis sowie für das Zeitmanagement.

Genau das müssten Schüler auch im täglichen Unterrichtsgeschehen erleben, aber wir arbeiten hier noch oft mit den Denkschemata der Industriegesellschaft: Wir messen die Arbeit in der Schule in Form von Unterrichtsstunden, Altersjahrgängen, Stundentafeln, Klassengrößen und Abschlüssen. Noch einmal, unser Schulsystem wurde im neunzehnten Jahrhundert konzipiert, und seitdem hat sich die Welt grundlegend verändert. Sie ist heute eine globale Plattform, die es Menschen überall auf der Welt ermöglicht, Wissen auszutauschen, mit anderen Menschen zu kommunizieren, zu arbeiten oder zu konkurrieren. Als Folge wird jede Arbeit und jede Dienstleistung, die irgendwie zerlegt und digitalisiert werden kann, heute vom besten und effizientesten Anbieter durchgeführt wird, wo immer auf der Welt der sich befindet.

Wenn dass so ist, dann müssen wir uns im Umkehrschluss fragen welche Arbeit für unsere heutigen Schüler morgen bleiben wird, das heißt, welche Arbeit man nicht ohne weiteres digitalisieren, automatisieren oder outsourcen kann, und schließlich, welche Kompetenzen Voraussetzung derartiger Tätigkeiten sind. Das sind dann die Kompetenzen, die junge Menschen in einer globalen Wirtschaft weniger verwundbar machen und an denen sich die Relevanz von Schule messen lassen muss.

Hier brauchen wir einen grundlegenden Diskurs über die für die Zukunft entscheidenden Kompetenzen, deren Definition, Operationalisierung und schließlich deren systematischer Bewertung,– wobei kognitive Fähigkeiten sicher eine zentrale Dimension bilden, es aber ebenso um Einstellungen, Motivation und Werte geht. Es geht auch um Transversalität und die Anschlussfähigkeit von Wissen sowie um die Förderung reflektiver Denk- und Handlungsprozesse. In der OECD gehen wir in diesem Zusammenhang von drei Kategorien von Schlüsselkompetenzen aus, denen wir für die Zukunft zentrale Bedeutung beimessen:

  • Zunächst treten Menschen mit der Welt durch kognitive, soziokulturelle und physische Medien und Mittel in Verbindung. Die Art dieser Interaktion bestimmt, wie sie die Welt deuten und Kompetenzen darin erwerben. Die interaktive Anwendung dieser Medien und Mittel eröffnet neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und mit ihr in Beziehung zu treten. Die Fähigkeit diese Instrumente zu nutzen, um Wissen zu erwerben, interaktiv zu verarbeiten, zu integrieren, zu bewerten und zu reflektieren stand deswegen auch bei PISA an erster Stelle.
  • Das allein reicht aber für den Erfolg junger Menschen nicht aus. Die Globalisierung ist heute nicht mehr primär eine Frage der Interaktion von Staaten, wie in den vergangenen Jahrhunderten, oder eine Frage der Interaktion multinationaler Unternehmen, wie in den letzten Jahrzehnten, sondern sie wird zunehmend eine Frage, wie sich der Einzelne konstruktiv in die Wissensgesellschaft einbringen kann. Voraussetzung dazu sind Kompetenzen, die es Menschen ermöglichen, sich in einer sich beständig verändernden Welt immer wieder neu zu positionieren, eigenständig und verantwortungsbewusst zu handeln, aktiv an verschiedenen Lebensbereichen teilzunehmen und diese mitzugestalten; Kompetenzen, mit denen junge Menschen ihre eigenen Pläne und Projekte in größere Zusammenhänge stellen können, Rechte, Interessen, Grenzen und Bedürfnisse erkennen und verantwortlich wahrnehmen können.
  • Drittens müssen Menschen in der Lage sein, gute und tragfähige Beziehungen aufzubauen, zu kooperieren und in Teams zu arbeiten, mit Konflikten umzugehen und sie zu lösen, sich in multikulturellen/pluralistischen Gesellschaften konstruktiv einzubringen. Die zunehmende Heterogenität ist schließlich nicht das Problem sondern das Potenzial der Wissensgesellschaft.

Natürlich müssen sich derartige normative Festlegungen an ihren vielfältigen Implikationen in der Wirklichkeit messen. Ich werde mich dazu hier vereinfachend auf ihre Implikationen in der modernen Arbeitswelt beschränken:

Im Bereich der ersten der drei oben genannten Kompetenzklassen legen wir in unseren Schulen traditionell großes Gewicht auf analytische Fähigkeiten, mit denen fachliche Probleme zerlegt und dann gelöst werden. Auf der anderen Seite wird immer deutlicher, dass die großen Durchbrüche und Paradigmenwechsel heute meist dann entstehen, wenn es gelingt, verschiedene Aspekte oder Wissensgebiete, zwischen denen Beziehungen zunächst nicht offensichtlich sind, zu synthesieren. Denken Sie an den Sozialarbeiter in der Schule oder an die Computerspezialisten, die heute das menschliche Genom systematisieren und gemeinsam mit Pharmaunternehmen die gewonnenen Erkenntnisse in neue Medikamente umsetzen. Die Fähigkeit zur Synthese verschiedener Gebiete wird also an Bedeutung gewinnen, da sie sich nicht ohne weiteres digitalisieren oder automatisieren lässt. Je komplexer unsere Arbeitswelt wird und je mehr der Umfang kodifizierten Wissens zunimmt, umso mehr werden außerdem Menschen an Bedeutung gewinnen, die die Komplexität nicht nur verstehen, sondern gleichzeitig in die Sprache anderer Fachgebiete übersetzen können und damit für Menschen anderer Fachrichtungen und oft im lokalen Kontext verständlich machen können. Dazu gehört wesentlich auch die Fähigkeit, Informationen sinnvoll zu filtern, relevante Informationen von weniger relevanter Information zu unterscheiden und so fort.

Im Bereich der zweiten Kompetenzklasse kann man beobachten, dass in unserer Gesellschaft nicht mehr Generalisten oder Spezialisten die entscheidende Rolle spielen werden, sondern Menschen die zwischen diesen beiden Ebenen vermitteln können. Natürlich behalten Generalisten, die einen weiten Wissensbereich überschauen und entsprechend transversal agieren können, ihre Bedeutung. Auch Spezialisten, die vertieftes Wissen über einen begrenzten Bereich besitzen, werden innerhalb ihrer Profession weiterhin Anerkennung finden. In einer komplexen, sich verändernden Welt kommt es jedoch zunehmend auf die Fähigkeit an, sich vertieftes Fachwissen in neuen Zusammenhängen zu erwerben, den eigenen Horizont durch lebensbegleitendes Lernen beständig zu erweitern, neue Rollen einzunehmen und sich ständig neu zu positionieren.

Vor diesem Hintergrund muss auch der Erfolg der deutschen Berufsausbildung neu bewertet werden. Die duale Berufsausbildung als Alternative zur akademischen Ausbildung genießt international hohe Anerkennung für die wirksame Integration junger Menschen in den Arbeitsmarkt. Jedoch steht dem Erfolg des Dualen Systems zu Beginn des Arbeitslebens ein stetig wachsendes Arbeitslosigkeitsrisiko in späteren Lebensjahren gegenüber. Offenbar gelingt es den Absolventen dieses Bildungsweges weniger, sich später den rasch wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt anzupassen. Das ist ja auch naheliegend: Das Gehalt, das Sie von Ihrem Arbeitgeber bekommen, spiegelt sowohl ihre transversalen wie auch arbeitsplatzspezifischen Fähigkeiten wieder. Wenn Sie Ihren Arbeitsplatz wechseln, zum Beispiel, weil Ihr Arbeitsplatz nach Osteuropa wandert, dann finden Sie schnell heraus, was ihre transversalen und spezifischen Fähigkeiten sind: Ihr neuer Arbeitgeber wird Ihnen nämlich nur Ihre transversalen Fähigkeiten vergüten, während spezielle Fähigkeiten, die Sie mitbringen, die aber an Ihrem neuen Arbeitsplatz nicht mehr zur Geltung kommen, in Ihrem neuen Gehalt auch keinen Niederschlag finden.

Es wäre unverantwortlich einem Schüler heute eine Arbeit auf Lebenszeit zu suggerieren. Je mehr Menschen heute Eigenverantwortung für ihre Karriereplanung sowie wirtschaftliche und soziale Absicherung übernehmen müssen, umso mehr müssen wir von modernen Bildungseinrichtungen erwarten, dass sie die Fähigkeit zur Veränderung stärken und als Grundlage dafür das Lernen lernen. Daran müssen wir die Leistungen von Schülern und Schulen messen.

4. Radikales Umdenken in der Organisation von Schule

Viertens erfordert individuelle Förderung radikales Umdenken in der Organisation von Schule, in einer Art und Weise, die den individuellen Lernfortschritt in den Mittelpunkt stellt. Das bedeutet den Übergang von einem Lehrer- und Schulzentrierten Bildungssystem zu einem Bildungssystem zu finden, wo Lehrer und andere Professionen gemeinsam arbeiten um Schüler in heterogenen Lerngruppen individuell zu fördern. Das heißt, dass das gesamte Schulgeschehen auf die Bedürfnisse der Schüler zugeschnitten ist, dass Lehrer die Zeit und die organisatorischen Möglichkeiten haben, wirklich herauszufinden wo die Stärken, Schwächen und Interessen der einzelnen Schüler liegen, und wo die Sichtweise der Schüler wirksam eingesetzt wird um Unterrichtsqualität und die Lernumgebung in Schulen zu verbessern.

Klar ist, eine systemisch verankerte, tief greifende Verbesserung der Qualität des Unterrichts erreichen wir nicht durch neue Konzepte oder mehr Vorgaben, sondern durch die Schaffung von wirksamen Anreiz- und Unterstützungssystemen, die Lehrern und Schulen helfen, voneinander und miteinander zu lernen, die Schülern, Lehrern und Schulen Perspektiven für Entwicklung bieten und in denen auf Vielfalt nicht mit institutioneller Fragmentierung geantwortet wird, sondern durch einem konstruktiven Umgang mit Vielfalt.

Wir legen im traditionellen Schulsystem ja immer genau fest, was wann wo und wie zu unterrichten ist, und mit den Lehrplänen für die 4 Schulformen in den 16 Bundesländern könnten Sie hier wohl den ganzen Raum tapezieren. Wenn Sie heute nach Finnland schauen, werden Sie sehen, dass dort 100 Seiten ausreichen, um festzulegen, was Schüler können müssen. Und der Unterschied hier ist wichtig: Dort wird nicht festgelegt, was Schulen tun müssen, sondern was das Ergebnis ihrer Anstrengungen sein soll, und dieses Ergebnis wird dann anhand vielfältiger Evaluationsmaßnahmen regelmäßig bewertet.

Es wird immer deutlicher dass angesichts der wachsenden Komplexität moderner Bildungssysteme auch die beste Bildungsministerin nicht die Probleme von zigtausenden Schülern und Lehrern lösen kann. Wohl aber können zigtausende Schüler und Lehrer die Probleme des einen Bildungssystems lösen, wenn sie vernetzt an der Lösung der Probleme arbeiten. Genau das ist ja, was die Wissensgesellschaft ausmacht, und dafür müssen moderne Bildungssysteme die Grundlagen schaffen.

Dazu gehört auch, über die Nutzung von Ressourcen in den Schulen neu nachdenken: Wir sehen z.B., dass in vielen der erfolgreichen Bildungssysteme die Schule für die Lehrer nicht nur der Ort zum Unterrichten ist, der anschließend möglichst schnell verlassen wird, sondern dass die Lehrer in diesen Ländern den Großteil ihrer Arbeitszeit in der Schule verbringen, und Planungs- und Korrekturarbeiten im engen Austausch mit ihren Kollegen verrichten. Wir müssen uns auch fragen, ob eine Deutschklasse wirklich immer genauso groß sein muss wie eine Mathematikklasse, oder ob wir neue Technologien nicht intelligenter integrieren können, und zwar indem wir sie nicht nur nutzen, um den normalen Unterricht durchzuführen, sondern als Instrument, um das pädagogische Repertoire zu erweitern und wirklich individualisierte Lernformen zu fördern. Es geht hier ja nicht primär um die Nutzung von Hardware, sondern darum, dass junge Menschen lernen, komplexe Informationsstrukturen zu verstehen, an Informationsnetzwerken wirksam teilzunehmen und Probleme dynamisch zu lösen. Neue Technologien können uns völlig neue Perspektiven eröffnen:

  • Sie schaffen authentische Kontexte, die viel spannender sind als unsere langweiligen Schulbücher, und wecken damit Interesse unter den Schülern.
  • Sie können virtuelle Gemeinschaften innerhalb aber auch zwischen Schulen schaffen, nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrer und anderes Personal. Fangen Sie doch damit an, die heute ausgezeichneten Preisträger zu vernetzen.
  • Sie bieten eine Plattform, in der Schüler mit verschiedenen Interessen und Fähigkeiten ihre Perspektiven austauschen können, und sie ermöglichen peer support und benchmarking.
  • Sie erlauben uns, neue Fähigkeiten zu entwickeln und Lehrmaterialien „just in time“ ins Unterrichtsgeschehen zu integrieren.

Natürlich bleibt auch hier viel zu tun, noch immer ist das Angebot an guten digitalen Lernmedien begrenzt, auch an pädagogischer und technischer Unterstützung mangelt es vielerorts, aber wir dürfen unter all diesen Problemen, mit denen wir uns tagtäglich herumschlagen, die längerfristigen Perspektiven nicht vergessen. Auch hier gilt: Andere Bereiche unserer Gesellschaft haben neue Technologien schneller und konstruktiver aufgenommen als das im Bildungssektor der Fall war. In der Zeit, in der die Schulpflicht eingeführt wurde, war die Schule in der Regel der erste Ort, wo die Kinder ein Buch in die Hand bekamen. Da muss es doch verwundern, dass in der heutigen Zeit die Schule nicht der zentrale Ort ist, an denen junge Menschen lernen, mit neuen Technologien umzugehen. Und natürlich gilt das genauso für die Lehrer: Je mehr Routinearbeit neue Technologien hier übernehmen, umso mehr werden die interessanten Aspekte der Lehrerarbeit dominieren und sich mehr Effizienz auch in besserer Bezahlung niederschlagen.

Aber neue Technologien sind natürlich nur ein Aspekt des radikalen Umdenkens, das wir brauchen. Wir müssen uns auch mit schwierigen Themen auseinander setzen: Für den Schüler in Deutschland, der Bildungsziele verfehlt, sind die Konsequenzen meist klar: –Der bleibt sitzen. Und es gibt wenige Länder, wo der Anteil von Sitzenbleibern größer ist als in Deutschland. Dagegen gibt es nichts wie eine übergreifende „Produkthaftung“ der Schule oder des Bildungssystems für seine Leistungen insgesamt. Ja im Gegenteil, wir bezahlen die Schule sogar noch für die Sitzenbleiber, anstatt die Gelder in individuelle Fördermaßnahmen zu stecken. Dieser Unsinn ist ziemlich teuer, denn volkswirtschaftlich gerechnet kostet ein Jahr Sitzenbleiben für einen Schüler die Gesellschaft zwischen 15,000 und 18,000 Euro, wenn Sie über die direkten Kosten, die Ministerin Sommer bezahlen muss, einmal einbeziehen, dass dieser Schüler ein Jahr weniger Steuern zahlen wird, und so fort. Das entscheidende aber ist, dass die Wissenschaft klar belegt, dass Sitzenbleiben für den einzelnen Schüler keinen Leistungsgewinn bringt, sondern die Probleme nur um ein Jahr verschiebt.

Dass dies so nicht sein muss, zeigen die leistungsstärksten PISA-Staaten, in denen es Aufgabe der Schule ist, konstruktiv und individuell mit Leistungsunterschieden umzugehen, das heißt sowohl Schwächen und Benachteiligungen auszugleichen als auch Talente zu finden und zu fördern - und zwar ohne dass die Möglichkeit bestünde, die Verantwortung allein auf die Lernenden zu schieben, das heißt etwa, Schüler den Jahrgang wiederholen zu lassen oder sie in Bildungsgänge bzw. Schulformen mit geringeren Leistungsanforderungen zu transferieren. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang klarstellen: Wer daraus schließt, dass erst die Schulstruktur geändert werden muss bevor es besseren Unterricht geben kann, der hat die OECD-Studien falsch verstanden. Wer die Ergebnisse unserer Arbeit aber so interpretiert, dass das gegliederte Schulsystem wesentlich mitverantwortlich für viele der aufgezeigten Probleme ist, indem es insbesondere Chancenungerechtigkeit im Bildungssystem tendenziell verstärkt, und wer daraus schließt, dass sich eine nachhaltige Verbesserung von Bildungsqualität und Chancengerechtigkeit langfristig nur im Einklang mit einer Reform der Bildungsstrukturen erreichen lässt, der hat uns richtig verstanden. Individuelle Förderung und Sitzenbleiben, individuelle Förderung und das Verschieben von Verantwortung zwischen den Schulformen des gegliederten Systems lassen sich schwer vereinbaren.

Auch die Sicht nach außen spielt eine wichtige Rolle, und hier als zentrales Instrument der Vergleich. Wenn wir über Schulleistungsvergleiche reden, denken wir immer gleich an Rankings und nehmen dann oft eine ablehnende Haltung ein. Aber die in dem Vergleich liegenden Chancen sind doch um so vieles größer! Vergleiche schaffen uns die Möglichkeit, über die Optimierung des eigenen Unterrichts, der eigenen Schule hinauszudenken und auf Alternativen zu schauen, die außerhalb unseres eigenen Erfahrungshorizontes liegen. Fragen wir uns doch einmal, was wir als Eltern wirklich über das wissen, was und wie unsere Kinder lernen? Wie profitiert ein Lehrer im Klassenzimmer von den Erfahrungen des Lehrers im Nachbarklassenzimmer? Was weiß die Schule von dem, wie es die Nachbarschule macht und wie sie mit vielleicht ähnlichen Problemen umgeht? Und wo könnten wir heute stehen, wenn eine Stadt wie Essen, wirklich wüsste, was ihre Bildungseinrichtungen wissen, seien es die Schulen, Kindergärten, Einrichtungen der Jugendhilfe und so fort. Das heißt, wenn wir das Kapital in den Köpfen der Menschen, die mit Bildung befasst sind, wirksam vernetzen und optimal nutzen könnten. Davon sind wir oft noch weit entfernt. Oft ist der Kindergarten oder die Schule für Eltern eine „black box“, wir reden von aktiver Mitarbeit der Eltern, schaffen dafür aber wenig Raum. Oft stehen die Lehrer als Einzelkämpfer vor den Problemen im Klassenzimmer. Oft bekommen die Schulen wenig Unterstützung und wenig Informationen über die Wirkungen ihres Handelns.

Überspitzt formuliert, wir gehen mit Schulen wie mit einem Futtersilo um: Jedes Jahr packen wir oben ein paar neue Reformideen drauf; dazwischen liegen dann, Schicht für Schicht übereinander, all die angefangenen und unvollendeten Reformen der letzten 10-15 Jahre, solange wie wir eben brauchen um von didaktischen Vorgaben in der Lehrerausbildung bis zur Umsetzung in den Schulen zu kommen; und unten werden dann die Schüler, Lehrer und Schulen mit einem Sammelsurium von Maßnahmen und Bestimmungen konfrontiert, die letztlich keiner mehr einordnen und überschauen kann und für die sich letztlich auch niemand mehr verantwortlich fühlt. Bildungsreformen werden nur dann Erfolg haben, wenn sie in eine langfristige strategische Perspektive eingebettet sind, nur wenn wir wissen, wo wir im Jahre 2020 stehen wollen, können wir sinnvoll entscheiden, was wir heute, morgen und in einigen Jahren tun können.

Die Zukunft liegt darin, eine „wissensreiche“ Lernumgebung zu schaffen. Sicherlich leisten Schulen bei der Vermittlung von Wissen oft gute Arbeit–, von den von PISA aufgezeigten Defiziten vielleicht mal abgesehen, aber darauf will ich hier gar nicht hinaus. Aber die Frage, die ich stellen möchte ist, wie weit wir Wissen selbst als primäre Ressource, als Motor für Entwicklung und Innovation im Bildungssystem einsetzen, so wie das in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft und der Wirtschaft selbstverständlich ist. Die Frage, wie wirkungsvoll wir in der Schule zum Beispiel Lehrpläne, Standards, Rückmelde- und Unterstützungssysteme verknüpfen, wie weit die Lehrenden eingebunden sind in den Prozess der Entwicklung und informiert sind über die Wirkungen ihres Handelns. Dieses Arbeitsumfeld können wir kurzfristig mit der klaren Gestaltung von Bildungszielen und längerfristig durch eine stärkere Professionalisierung der Einrichtungen gestalten.

Es gibt kaum ein Unternehmen, das einen so hohen Anteil hoch qualifizierter Menschen beschäftigt wie das Bildungssystem. Aber oft nutzen wir das Potenzial das in qualifizierten und motivierten Lehrern steckt, bloß zur Vermittlung von Wissen, nicht aber als zentrale gestaltende Kraft im Bildungssystem, und nur dann lässt sich individuelle Förderung realisieren. Stellen Sie sich einen Chirurg und einen Lehrer aus den sechziger Jahren vor, die eine Zeitreise in unsere Gesellschaft machen. Der Chirurg, der zu seiner Zeit mit dem im Studium erarbeiteten Wissen und einem Koffer mit Instrumenten als Einzelperson erfolgreich sein konnte, ist im Jahr 2006 in eine sich dynamisch entwickelnde Profession eingebettet, mit der er im ständigen Austausch steht und die ihm mehr bedeutet als das Krankenhaus, in dem er arbeitet. Er wirk konfrontiert mit einem hoch technologisierten Arbeitsplatz an dem er seine Arbeit nur als Teil eines komplexen Teams bewältigen kann. Der Chirurg wird schnell zu der Erkenntnis kommen, dass ein Zeitsprung von einem halben Jahrhundert ihn völlig abgehängt hat. Und der Lehrer? Er findet sich vielleicht noch heute zurecht, weil sich seine Arbeitsumgebung nicht grundlegend geändert hat.

5. Synergien nutzen

Bei Punkt Fünf geht es darum, dass das Umfeld der Schule, ob das jetzt Kindergärten, die Jugendhilfe oder sonstige kommunale Einrichtungen sind, die Schule in ihren Anstrengungen unterstützt, anstatt konkurrierende Angebote zu schaffen.

Finnland ist auch hier ein spannendes Beispiel. In den 60er Jahren sah das finnische Schulsystem ganz ähnlich wie das deutsche aus. Es gab alle möglichen kommunalen Einrichtungen, die sich mit Bildung beschäftigten, das Schulsystem war streng gegliedert, es gab Sonderschulen, eine Schulaufsicht und so fort. Und die Schülerleistungen waren im internationalen Vergleich Mittelmaß. In der Praxis hieß es, dass es immer schön einfach war Verantwortung abzuwälzen. Der Lehrer im Gymnasium konnte sich sagen, ich mache den richtigen Unterricht, habe aber die falschen Schüler, die eigentlich in die Hauptschule gehören, die Schule konnte sagen, „wir können hier nicht die Probleme der Gesellschaft lösen“ und verweisen an die Jugendhilfe. Und so fort. Ein zentraler Gesichtspunkt der Reformen in den 70er und 80er Jahren in Finnland war, schrittweise die Verantwortung für den Lernerfolg auf den Lehrer und die Schule zu verlagern, diese bei ihrer Arbeit aber dann auch entsprechend zu unterstützen. Man hat dazu die Kindergärten in die Schulen eingebunden, die verschiedenen Schulformen abgeschafft, auch die Sonderschulen, und als man gesehen hat, dass die Schulaufsicht nicht davon lassen konnte, lange Mängellisten aufzustellen, anstatt die Schulen wirksam bei ihrer Arbeit zu unterstützen, hat man die auch noch abgeschafft.
Schluss

Natürlich stellt die Umsetzung dieser fünf Punkte hohe Ansprüche an alle Beteiligten. Klar ist auch, das Schulen dabei oft vor Widersprüchen stehen:

  • Wir erwarten von ihnen Innovation und Flexibilität und verschaffen ihnen dazu auch wachsende Freiräume für die Gestaltung der Lernumgebung. Auf der anderen Seite aber erwarten wir Verlässlichkeit in den Ergebnissen, wollen jeden Schritt evaluieren und wollen als Eltern für unsere eigenen Kinder auch keine Risiken eingehen.
  • Wir machen große Anstrengungen um Lernen zu individualisieren, durch neue Unterrichtsformen und vielfältigere Bildungswege, auf der anderen Seite müssen sich moderne Bildungseinrichtungen aber als vernetzte Lernorganisationen entwickeln und Chancengerechtigkeit sichern.
  • Wir betonen die Rolle interpersoneller Kompetenzen, was aber in den Zeugnissen auftaucht, ist in der Regel nur die Zertifizierung der Einzelleistungen von Schülern.
  • Wir bewerten die Ergebnisse von Bildungsprozessen zunehmend anhand kognitiver Leistungen, auf der anderen Seite haben Eltern heute wachsende Erwartungen an Schulen, die weit über kognitives Lernen hinausgehen.

Das entscheidende ist jedoch, dass der internationale Vergleich uns zeigt, dass die Probleme lösbar sind und Schulen diesen Herausforderungen gerecht werden können. Das beeindruckende an Finnland oder Kanada ist ja nicht nur die Gesamtleistung, sondern, dass dort fast alle Schüler und Schulen gute Leistungen bringen.

Und jetzt kommen Sie mir nicht mit dem oft so beliebten Argument, das alles geht mit den heutigen Lehrern nicht, und wir müssen erst die Lehrerausbildung ändern, bevor sich irgendetwas in den Schulen ändert. In den siebziger Jahren stellte Nokia, die Mobiltelefonfirma im PISA-Siegerstaat Finnland, noch Gummistiefel her. Was meinen Sie, wo die heute stünden, wenn man sich damals gesagt hätte, wir würden gerne im Bereich Hochtechnologie arbeiten, aber unsere Ingenieure können das nicht. Deshalb müssen wir erst einmal warten, bis unsere Ingenieure in Pension sind, dann müssen wir neue Ingenieure ausbilden, und wenn die dann irgendwann einmal in unser Unternehmen kommen, dann werden wir mal etwas Neues machen.

Wir müssen das Bildungssystem nicht für die Lehrer verändern, sondern mit ihnen, und da gibt es viele hoch motivierte Menschen, die ein Arbeitsumfeld brauchen, das Perspektiven für Entwicklung und Kreativität bietet. Ein Arbeitsumfeld, in dem die Schule Lernorganisation wird, mit einem professionellen Management, das sich durch interne Kooperation und Kommunikation, etwa in den Feldern strategische Planung, Qualitätsmanagement, Selbstevaluation und Weiterbildung auszeichnet, aber auch durch Dialog nach außen mit den verschiedenen Interessengruppen, vor allem mit den Eltern. Ein Arbeitsumfeld, dessen Attraktivität und Ansehen nicht allein auf dem Beamtenstatus beruht, sondern auf Kreativität, Innovation und Verantwortung, ein Arbeitsumfeld, das sich durch mehr Differenzierung im Aufgabenbereich, bessere Karriereaussichten, eine Stärkung der Verbindungen zu anderen Berufsfeldern, mehr Verantwortung für Lernergebnisse und bessere Unterstützungssysteme auszeichnet.

Vieles an Reformen ist auf den Weg gebracht, darauf können weitere Anstrengungen aufbauen. Aber um international den Anschluss zu finden muss man glaube ich auch den Mut aufbringen, über die Binnenoptimierung des bestehenden Bildungssystems hinaus über die langfristige Transformation der dem bestehenden Bildungssystem zugrunde liegenden Paradigmen nachzudenken.

Das Erfolg möglich ist, nicht nur in Finnland, Kanada oder Japan, sondern mitten in Deutschland, das haben uns heute die Preisträger gezeigt. Diese Erfolge sichtbar zu machen, weiter zu fördern und systemisch zu vernetzen wird eine wichtige Aufgabe sein. Letztendlich wird sich Bildungspolitik aber nicht an dem Erfolg einzelner Bildungseinrichtungen messen lassen, sondern an dem Gesamtergebnis der Bildungsleistungen, so wie wir sie im Dezember dieses Jahres in der nächsten PISA-Studie bewerten werden.

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